Ontotextualität in Philosophie und Kunst
(aus: Giwi Margwelschwili, Leben im Ontotext, Hrsg. Carsten Gansel, Neubrandenburg, 1993)

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1. Die ontotextuelle Verfassung des Menschen
2. Der Onto-Kode des Bewusstseins
3. Ontotextualität in der Geschichte
4. Die Welt der Weltanschauung und die Lebenswelt
5. Zur Ontotextualität der Selbstkorrektur des Bewusstseins
6. Die ökologische Krise der Lebenswelt als ontotextologisches Problem
7. Ontotextualität in der Philosophie
8. Allgemeines zur Ontotextualität in der modernen Kunst
9. Ontotextualität als ein Problem im Arbeitsprogramm der H.-Böll-Stiftung
10. Über das metatextologische Wesen der Ontotextualität des Bewusstseins
11. Hermeneutik und Textologie
12. Zur ontotextologischen Kraft des Wortes
13. Über Ontotextualität in Werken der deutschen Literatur
14. Allgemeines über nichtdeutsche Autoren ontotextologischer Schreibweis
 

1. Die ontotextuelle Verfassung des Menschen

Die Anregungen zu der Forschungsarbeit, welche ich als Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung während meines Studienaufenthaltes in Deutschland zu erfüllen hatte, sind in der Hauptsache von Info, Heft 2/190, "Unter Krahnenbäumen" ausgegangen. Das Heft vermittelte mir, dem aus dem Osten Angereisten und auf dem weiten Wirkungsfeld Ihrer Organisation völlig Unbewanderten, einen orientierenden Einblick in die Arbeit der Stiftung, in den Kreis ihrer hauptsächlichen Themen und Aufgaben. Die Anregungen, die ich empfing, haben – um es gleich zu sagen - mich allerdings nur gespornt, auch hier, in Deutschland, mit etwas fortzufahren, was mich schon lange Jahre zuvor beschäftigt hat und was auch bis heute immer noch den Hauptgegenstand meines Schreibens ausmacht. Das ist die ontotextuelle Verfassung des Menschen, das Prinzip, nach dem er als textlich prädeterminierter, als Textweltmensch, existiert, abhängig z. B. von den textuellen Grundlagen der großen Religionen (des Buddhismus, des Hinduismus, des Juden- und Christentums, des Islam), aber abhängig auch von anderen Texten der weltanschaulich-ideologischen Art, wie sie vor allem den geschichtlichen Gang unseres Jahrhunderts bestimmt haben und zum Teil auch immer noch bestimmen. Das ist einerseits die NS-Literatur, die das Schicksal Deutschlands von 1933 - 1945 geprägt hat, und andererseits sind es die Werke von Marx und Engels, welche - besonders in ihrer leninistischen und dann auch stalinistischen Um- und Verformung - die Grundlagen für den Gang der Geschichte in Russland und Osteuropa gestellt haben. Es ist unsere feste Überzeugung, dass alle Höhe- und Tiefpunkte der Menschheitsgeschichte in dem ontotextologischen Wesen dieser Geschichte verwurzelt sind, nämlich darin, dass sie - mindestens immer dort, wo sie die Denk- und Lebensweisen ganzer Völker(tümer) entscheidend beformt - sich stets nach speziellen ontotextuellen Vorlagen entfaltet, immer als ein von seinen entsprechenden Texten aufgerufenes und auf den Weg gebrachtes Weltgeschehen verständlich wird.

2. Der Onto-Kode des Bewusstseins

Diese grundsätzliche Abhängigkeit der Geschichte (auch und vor allem der Kulturgeschichte) von textuellen Unter- oder Vorlagen ist aber nur eine von vielen anderen Ausdrucksformen für das, was wir "die ontotextuelle Verfassung des Bewusstseins“ nennen möchten, nämlich Ausdruck des Bewusstseins als einer ontotextuell vorprogrammierten, d. h. der Vorschrift seines Ontoprogramms oder Ontokodes gehorchenden, Instanz. Seinem ursprünglichen, wahren Sinn nach wäre dieses Ontoprogramm als offener Text zu begreifen, als Kode also, der das Bewusstsein auf all das hin orientiert (programmiert), was unterschiedlich von ihm existiert (auf andere Bewusstseinsformen, auf Naturerscheinungen, auf Transzendenz, Metaphysisches u. ä.). Das heisst: dieser Text ist als Kode oder Programm ontotextueller (oder ontotextologischer) Freiheit zu verstehen. Der Ontotext des Bewusstseins wäre demnach ein Text, der es auf ontische Heterothematizitäten hin anlegt, der es zwingt, sich im Wesentlichen mit solchen Themen zu befassen, weil es anders nicht existieren (kein "in-der-Welt-Sein" sein) könnte. Was die "ontotextologische Differenz" zwischen Menschenwelt und Tierreich ausmacht, ist der Umstand, dass das Tierwesen in seinen (für es immer spezifischen) Ontothematizitäten befangen bleibt, dass es im Prinzip nur (s)ein Ontothema kennt und allem Hetero-onto-thematischen ausweicht oder davon gereizt, irritiert, verschreckt zum Angriff auf solche Thematizitäten übergeht. Das Hetero-onto-thematische in der Ontotextualität hat im Tierreich zumeist den Wert des Anti-onto-thematischen, d. h. es ist hier - mit wenigen Ausnahmefällen -gleichbedeutend mit so etwas wie "Anti-onto-thematizität".

3. Ontotextualität in der Geschichte

Die ontotextologischen oder ontotextuellen Unterlagen der Weltgeschichte, d. h. die großen, diese Geschichte prägenden, Texte, sind nichts anderes als ebenso viele Formen der Veräußerlichung der Ontotextualität des Bewusstseins: Formen ihrer - allerdings immer modifizierten, d. h. von den historisch jeweilig vorherrschenden Interessen, Ideen und Problemen beinhalteten und bestimmten - textlichen Widerspiegelung in der Außenwelt. Diese Verlagerung in das "Außen“, d. h. in die von kategorischen, wie auch kategorisierenden, Wechselbezügen gegensätzlicher Ontothematizitäten durchherrschte Naturwelt (die Tierwelt z. B. lebt von der Pflanzenwelt, im Bereich der Tierwelt lebt das Raubtier von anderen Tieren usw.) ist für die Ontotextualität des Bewusstseins immer von einer prinzipiellen Gefahr der Verzerrung und Pervertierung begleitet gewesen, nämlich von der Gefahr ihrer mindestens partiellen Anpassung an die Kategoricität in den Ontothemen der Natur. Als ein im Prinzip mit dieser Kategoricität verwobenes (mit den Erscheinungen der empirischen Welt befasstes und von ihnen benommenes) war das Bewusstsein immer schon dem Risiko ausgesetzt, seine ontotextologische Spezifik zu verlieren, eine bestimmte Kategorisierung seiner Ontotextualität einzugehen. Diese Bedrohung ist nirgends so deutlich erkennbar wie in den großen kulturweltschöpferischen Texten der Menschheit, wie in den von diesen Texten veranlassten historischen Schicksalen der Menschenwelt. Denn wenn einerseits mit der Erschaffung eines jeden solchen Ontotextes zusammen auch immer das Wunder der veräußerlichenden Objektivierung, der Phänomenalisierung der Ontotextualität des Bewusstseins in die Welt kam, so sind im Gefolge manch eines ontotextologischen Geschichtsanfangs andererseits leider auch viele verhängnisvolle Entgleisungen in die Kategoricität belegbar, viele Fälle des Abgleitens der Ontotextualität des Bewusstseins auf die ontotextologische Ebene der Tierwelt, Fälle der schicksalhaftesten Verwucherung des in diesen Texten immer wesentlich mitschwingenden, menschlichen Ontoprogramms. Über weite Strecken des geschichtlichen Raumes und der geschichtlichen Zeit erschien (und erscheint bis heute noch) dieses Programm mit einer fatalen Verzerrung seines eigentlichen finalen Sinnes, ja mit einer Umfälschung dieses Sinnes in sein ontotextuelles Gegenteil: aus der Hetero-onto-thematizität, auf die die Aktivität des Bewusstseins (sein Nach-Denken) ontoprogrammäßig zielt, wurde (wird) Anti-onto-thematizität, die ontotextologische Verfassung des Menschen erlitt (und erleidet auch bis heute noch) als Zielsetzung einen verhängnisvollen Schub ins Fremdthematische. Der absolute Wahrheitsanspruch der Religionen und die daraus folgende kategorische Verneinung anderer Glaubensbekenntnisse, die Religionskriege, die Inquisition, aber auch solche ontotextlich festgelegten Begriffe wie Rassen- und Klassenhass, wie auch die gesamte ökologische Problematik unseres technischen Zeitalters legen ein beredtes Zeugnis dafür ab, wie dem Hetero-onto-thema-tischen in der Menschheitsgeschichte der Sinn von Anti-onto-thematizität unterlegt worden ist, wie das Moment der Kategoricität in der ontotextologischen Verfassung des Bewusstseins zur Dominanz gelangte und zu welchen katastrophalen Endergebnissen dieser Fehler im Ontotext (das falsche Auslegen bzw. Lesen dieses Textes) führen konnte. Dieselben fatalen Entwicklungen der Geschichte zeigen aber auch, wie anfällig, d. h. von fremdthematischer Kategoricität ansteckbar und verfälschbar, die ontotextologische Verfassung des Menschenwesens eigentlich ist, sie verweisen auf die prinzipielle FragilitätdieserVerfassung und fordern diegemässe - nur durch eine ontotextologischeTheorie des Bewusstseins zu leistende - Berücksichtigung dieser Tatsache.

4. Die Welt der Weltanschauung und die Lebenswelt

Die ontotextologische Theorie des Bewusstseins würde uns die Bewusstseinswelt als Lebenswelt enthüllen und richtig beschreiben können, denn erst sie besäße den adäquaten Begriff für die ontotextuelle Verfassung des Menschen, für das Ontoprogramm, das den finalen Sinn seines Lebens strukturiert und ihn als in-der-Welt-Sein realisiert. Mit einer ontotextologischen Theorie des Bewusstseins bekäme die sogenannte Lebensphilosophie dann wohl endlich auch ihr theoretisches Fundament, die Bewusstseinswelten wären als verschiedene Formen des Bewusstseinslebens der Analyse zugänglich gemacht und für das Philosophieren besser erfassbar. Der offensichtliche Niedergang eines nach bestimmten Kriterien ideologisierten Staatswesens in Osteuropa hat wohl endgültig klargestellt, dass Weltanschauung noch lange nicht Lebensweltanschauung ist, dass die Welt der bloßen Weltanschauung nicht nur zu wünschen übrig lassen, sondern selber auch zu dem Unerwünschtesten werden kann, was da für den Menschen (besonders für den in solche Welt hineingezwungenen und dort "leben" müssenden) existiert. Eine von den Hetero-onto-thematizitäten abgeschnittene weltanschauliche Welt, also eine, die diese Thematizitäten wesentlich nur als Anti-onto-thematizitäten begreift und verdammt, hat sich immer schon am Leben des Bewusstseins verbrochen, sie hat sein ursprünglich polythematisches Ontoprogramm (seinen von Haus aus polythematischen Ontokode oder Ontotext) monothematisch interpretiert und es dadurch auf eine prinzipiell nicht - oder außermenschliche ontotextuelle Daseinsebene nivelliert. Hieraus folgt: die Welt einer ausschließlich bloßen Weltanschauung ist lebensuntüchtig, sie muss - da sie ja den ontotextologischen Lebensnerv des Bewusstseins selber durchschnitten hat - einmal doch ganz unvermeidlich auseinander fallen. Leider kennt die Geschichte auch genug Fälle, wo es eines kategorischen Anstoßes von außen bedurfte, um die Welt einer ontotextologisch entgleisten Weltanschauung zu Fall zu bringen oder - was hier dasselbe ist - solche Welt ihrer eigentlichen ontotextuellen Lebensbasis wieder zuzuführen. Wie kategorisch verfremdet und von der eigentlichen strukturellen Wahrheit des menschlichen Onto-Kodes abgekommen die Kräfte der Demokratien auch selber sein können (und fraglos auch immer sind), aus solchen Auseinandersetzungen müssen sie - weil sie der Lebenswelt des Bewusstseins immer unvergleichbar mehr Rechte bei sich einräumen, als das auf der Gegenseite gemacht wird -zum Schluss doch als die Gewinner hervorgehen. Für die alle Arten der Thematizitäten (das Ontothematische, das ontisch Unthematische in allen seinen Spielarten, selbst bis zum ontisch nicht mehr Thematisierbaren (Metaphysischen) hin, das ontisch nicht mehr und noch nicht Thematische, wie es für die Erinnerung und beim Anticipieren Thema werden kann, und das Hetero-onto-thematische in allen seinen Möglichkeitsvarianten) zusammenschließende, also ihrem Wesen nach polythematische Onto-kontextualität des Bewusstseins muss jede Bewusstseinsform der Mono-onto-thematizität - besonders ihre kategorisch nach außen abgestützte, in Waffen starrende, Form - prinzipiell unannehmbar sein. Es ist deshalb als Ausdruck ontotextologischer Gesetzlichkeit und Notwendigkeit zu betrachten, wenn in den mono-onto-thematisch und kategorisch aufgezogenen Weltanschauungsweiten plötzlich wieder die Lebenswelt des Bewusstseins aufbricht, wenn sie - wie das z. B. heute wieder in Albanien geschieht - mit der Weltanschauungswelt kollidiert und das Recht auf ihr Bestehen einfordert.

5. Zur Ontotextualität der Selbstkorrektur des Bewusstseins

Die Hartnäckigkeit, mit der die Lebenswelt des Bewusstseins in unserem Jahrhundert z. B. immer bemüht war (ist), sich selbst nach den längsten (jahrzehntelangen) Perioden ihrer ideologischen Ausschaltung und Paralysierung gegen die Weltanschauungswelt durchzusetzen, also so etwas wie den Weltwechsel zu erwirken, kann als weitere Bezeugung dafür angesehen werden, dass es für das Bewusstsein als ontotextologische Instanz auch charakteristisch ist, sich selbst zu korrigieren, dass der Hang zur Selbstkorrektur eine Grundeigenschaft ist, die ihm als Ausdruck einer spezifischen, nämlich thematisch prinzipiell unbegrenzten (offenen oder freien) Ontotextualität zukommt. Gerade weil das Ontoprogramm des Bewusstseins ein offener Text ist, vornehmlich offen also zum Hetero-onto-thematischen, wird es sich niemals für ewig kategorisieren, nivellieren (in einen verschlossenen Ontotext verwandeln) lassen, d. h. es wird die ihm von der Weltanschauungswelt gezogenen Grenzen schließlich doch einmal durchbrechen, es wird die ontologischen Grundlagen dieser Welt, seine falschen Ontotexte, seine ideologischen Bibliotheken, selber einmal von sich abwerfen und zu den wahren Büchern - den Büchern über das Leben (das sind vor allem die auf den Scheiterhaufen der Weltanschauungswelt verbrannten Texte) - zurückkehren. In anderen Worten bedeutet das: das Ontoprogramm des Bewusstseins kann im Prinzip nicht lange als falsifiziertes existieren, es hat eine Kraft zur Selbstkorrektur, zur Negierung aller ihm aufgeladener (angedachter) Fehler, eine Kraft zum Beheben der mindestens prinzipiellsten Verzerrungen und Verstümmelungen seiner Lebenswelt.
Der erste und unmittelbarste Beweis für die Fähigkeit dieses Ontoprogramms, sich selber zu berichtigen, ist das Gewissen. Der Gewissensruf fordert das Bewusstsein auf, sich zu korrigieren. Er macht es auf einen Fehler aufmerksam, der sich in sein Ontoprogramm eingeschlichen hat, und fordert seine Gutmachung. Der Fehler besteht hier grundsätzlich immer in der Reduktion des Hetero- auf das Anti-onto-thematische, in der Missachtung des Anderen in seinem Anderssein, in der Setzung dieses Andersseins als etwas Unzulässiges und zu Verneinendes und in diesem Missachten als schon vollzogener Akt. Diese von dem Gewissensruf erwirkte – oder wenigstens in ihrer Möglichkeit immer sichtbar gemachte – Wendung des individuellen Bewusstseins zur Selbstkorrektur beweist das ontotextologische Wesen aller solchen Rufe, ihre Verwurzelung im Ontoprogramm der menschlichen Seinsverfassung, d. h. im Ontokode, der das Bewusstsein hauptsächlich auf Hetero-onto-thematisches ausrichtet und der nicht dulden kann, dass dieses Wesentlichste seiner Onto-themata in Anti-onto-thematizität verkehrt wird. Die Rede vom Gewissensruf ist hier natürlich nur eine bildhaft-figurative. Eigentlich "rufen" tut nichts. Was geschieht ist nur, dass das in einem bestimmten Sinne lebende, nämlich beständig zu neuen (zu den Hetero-)Ontothematizitäten strebende, Bewusstsein sich gegen seine ontothematische Fixierung auf den Fehler in seinem individuellen Kode aufbäumt, dass es plötzlich gegen den Umstand protestiert, dass es von irgendeinem (aber von ihm selbst zugelassenen bzw. begangenen) Akt der Kategorisierung einer Hetero-onto-thematizität oder genauer: von der Erinnerung an einen solchen Akt, selber nicht mehr loskommt, dass dieser Fehler ihm verbietet, sich mit anderen Themen zu beschäftigen, dass er ihm gebietet, an nichts anderes mehr zu denken, als eben nur an dieses eine und einzige Thema. Diese in ihrem Wesen mono-onto-thematische Fixierung des Bewusstseins als Ursache seines Abgeschnittenseins von allen anderen (Hetero-)Ontothematizitäten ist das, was den Gewissensruf eigentlich ertönen lässt, was ihm den Sinn der Beschwerde eingibt. Denn in ontothematischer Fixierung leben heißt für das Bewusstsein sich absagen müssen von seinem Eigentlichsten und Wesentlichsten: von seiner Zuwendung zu allem Hetero-onto-thematischen und von der Aufgabe, seine Lebenswelt mit diesen Thematizitäten auszubilden (zu bereichern, zu vervollkommnen usw.). Der Gewissensruf ist etwas ontotextologisch Begründetes, d. h. er kann seine plausible Erklärung nur in den Grenzen einer ontotextologischen Theorie des Bewusstseins erhalten.

6. Die ökologische Krise der Lebenswelt als ontotextologisches Problem

Wir haben oben die Lebenswelt des Bewusstseins seiner Weltanschauungswelt gegenübergestellt und gefunden, dass sie in diesem Verhältnis der unendlich wichtigere Pol ist: ob eine Weltanschauungswelt bestehen kann, hängt davon ab, wie - ja ob sie überhaupt - mit den Problemen der Lebenswelt des Bewusstseins zu Rande kommt. Gerade weil sie in den Fragen der Lebenswelt ein prinzipielles Unverständnis an den Tag legten, sind die WeltanschauungsweIten des europäischen Ostens heute versunken (oder jedenfalls am Versinken). Andererseits ist nun aber auch die Lebenswelt des Bewusstseins, wie sie sich beispielsweise im Westen konstituiert hat, mit erheblichen Mängeln und Widersprüchen belastet, welche heute schon Gefahren an ihrem Horizont versammelt haben, die für sie selber die bedrohlichsten sind. Diese Welt erscheint uns heute als eine der sogenannten planetarischen Arbeitsmaschine (der Megamaschine) verfallene, als eine Welt der in ihr immer reeller möglich gewordenen (universalen) ökologischen Krise. Und wie im Falle der Weltanschauungswelt der kategorisch-kategorisierende Umgang mit den Hetero-onto-thematizitäten diese Art von Welt langsam zu einer Gegenwelt des Bewusstseins werden ließ, zu einer Dimension des anti-onto-thematischsten Weltverschlusses und der onto-textologischen Lebensverneinung, so sehen wir, dass leider auch in den weltanschaulich weniger besetzten, den Hetero-onto-thematizitäten unvergleichbar stärker zugewandten, Lebensräumen des Westens die gleichen ontotextologischen Entgleisungen stattfinden, dass z. B. durch den rücksichtslosen, ausbeuterischen Umgang mit der Natur die Lebensgrundlage der Menschheit in die Gefahr kommt, erschüttert zu werden. Wir sehen also, dass auch hier das Hetero-onto-thematischedazu neigt, sich in Anti-onto-thematizitätzu verwandeln, dass auch hier ganz ebenso wie in der Weltanschauungsweit das Ontoprogramm des Bewusstseins (sein Onto-Kode oder Onto- Text) der Gefahr der Kategorisierung und ontotextologischen Pervertierung ausgesetzt ist. Die ökologische Krise der Lebenswelt ist ein aus der ontotextologischen Anfälligkeit des Bewusstseins für Kategoricitäten entstandenes Problem: auch sie entsteht aus der Verkehrung des Hetero in das Anti, aus derselben Verwucherung und Verfremdung seines Ontoprogramms. Dass dann auch die wichtigsten Gedanken und Vorschläge zur Lösung dieses Problems mit der ontotextologischen Struktur des Bewusstseins immer notwendig zu tun haben, dass sie diese Struktur mitberücksichtigen, immer irgendwie von ihr ausgehen müssen, auch wenn sie selber die Ontotextualität und ihre Bedeutung für das Leben nicht eigens untersuchen oder diese Begriffe möglicherweise auch ganz anders verstehen, ist etwas Selbstverständliches. Wenn z. B. gesagt wird, dass in einem ökologisch denkenden Parlament "... vertreten durch Anwälte ...Erde, Wasser, Luft und Feuer ...Steine, pflanzen und Tiere Sitz und Stimme haben (müssen)", so ist das die Einbeziehung der Hetero-onto-thematizitäten der Natur in den parlamentarischen (eben alle thematisch unterschiedlichen Denk- und Lebensweisen miteinander verbindenden und sie in steter wechselseitiger Ergänzung als organisches Ganzes existieren lassenden) Ontotext des Bewusstseins, so ist das die Überführung dieser Thematizitäten in eine Dimension, die den anti-onto-thematischen Gegensatz nicht kennt (als parlamentarische jedenfalls nicht kennen darf), wo also das Hetero der Natur endlich auch imstande ist, seine Rechte anzumelden, wo ihm der Sinn des Anti genommen ist usw.

7. Ontotextualität in der Philosophie

a) Ontotextualität auf der präphänomenologischen Etappe des Philosophierens
Die Ontotextualität ist als Grundeigenschaft des Bewusstseins schon von jeher der Gegenstand allen Philosophierens gewesen. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu bemerken, dass dieser Begriff wegen der Vorherrschaft anders gearteter (zumeist metaphysischer oder systemlogischer) Intentionen selbst nirgends direkt zur Sprache kam, dass nur das, was er bedeutet, hier teilweise in den Analysen aufscheint, ohne seine einzig mögliche, eben ontotextologische, Erklärung zu erhalten. So finden wir z. B. schon bei den Sophisten das Hetero-onto-thematische als unabdingbares Bewusstseinskorrelat angesprochen. Bei Überlegungen wie etwa "Mit jedem Tod ist normalerweise auch immer ein Verlust zu beklagen. Dem Särgemacher bedeutet er jedoch einen Gewinn" u. ä. ist die prinzipielle Offenheit des Bewusstseins für das Hetero-onto-thematische in das Blickfeld des Philosophen,z. B. des philosophierenden Sophisten, gerückt. Es ist sicher auch kein Zufall, dass die Sophistik in einer Zeit zur Blüte kam, als sich die Polis im alten Griechenland (in Athen) schon demokratisierte. Demokratie ist - in welcher historisch konkreten (bedingten) Form sie sich auch immer verwirklichen mag - stets eine wesentlich auf dem thematischen Onto-kon-text (oder Onto-Programm) des Bewusstseins gegründete Verfassung, stets eine auf' Hetero-onto-thematizitäten Rücksicht nehmende, mit ihnen eine Einigung anstrebende, Kompromisse eingehende etc., Bewusstseinsform. Der höhere, philosophische, ja in einer Weise schon ontotextologisch zu nennende, Sinn des von den sophistischen Rhethoriklehrern betriebenen Unterrichts dürfte darin bestanden haben, den eigentlichen Ontokode des Bewusstseins zu reaktivieren, ihn von allen nivellierenden Kategoricitäten zu reinigen, ihm seine ursprüngiche ontothematische Freiheit (Offenheit) zurückzugeben und diesen Kode dadurch zu einer adäquaten ontotextuellen Grundlage des öffentlichen (von demokratischen Auffassungen geprägten) Lebens zu machen.
Obwohl das Philosophieren selbst auch noch auf der Höhe seiner spezifischen Entfaltung im alten Griechenland (bei Plato, Aristoteles und den Neuplatonikern) in Momenten ganz unzweideutige ontotextologische Züge aufweist, bekommt es erst durch die von Descartes vollzogene Wendung zum Erkenntnissubjekt hin wieder mit der Ontokontextualität des Bewusstseins eigentlich zu tun. So erhält - wenn im Hauptsächlichen auch immer noch mit der Sprache der alten Metaphysik umschrieben oder ausgedrückt - der Begriff der Ontotextualität des Bewusstseins in den philosophischen Überlegungen seinen gebührlichen Platz. Die ideae innatae, wie sie Descartes versteht, sind z. B. schon so etwas wie eine kodeartige Vorschrift für das Bewusstsein, sein cogitare nach bestimmten Ideen auszubilden, also nach bestimmten, eben ontotextuellen, Anweisungen zu leben (zu denken). Noch ausgeprägter wird der Kode-Begriff dann im transzendentalen Philosophieren Kants, wo ja die transzendentale Logik im Grunde als Logik eines Programms gedacht ist, nach dem sich das Bewusstsein seine Erfahrungswelt entwirft, als Logik eines Onto-Programms also, wonach es nur leben bzw. denken kann. Auch die Hetero-onto-thematizität, die hier im wesentlichen auf den Begriff des Dinges an sich gebracht ist, hat in dieser ersten (klassischen) ontotextologischen Version des transzendentalen Philosophierens schon ihren funktionsnotwendigen Platz. In diesen zwei ersten für alles ontotextologische Philosophieren schon grundlegenden Phasen wird aber andererseits auch das deutlich, was für die gesamte spätere Entwicklung der Philosophie ihr permanentes Merkmal bleibt: trotz aller ihrer, in bestimmten Fällen sogar auch schon "nächsten" Nähe zur ontotextuellen Wahrheit des Bewusstseins, wird diese Wahrheit als solche nicht intendiert, sie kommt nirgends zu ihrer eigenen Begrifflichkeit und erscheint stattdessen immer nur als Implikat theoretisch anders georteter (zum Teil auch der metaphysischen Tradition entliehener) Begriffe, z. B. in den ideae des Cartesius, im Begriff des Dinges an sich usw.
Als exemplarisches Beispiel solcher "nächsten", aber eben leider auch nur "blinden" Nähe zur Ontotextualität des Bewusstseins kann die Philosophie Nietzsches gelten. Was an ihr schon früh erkannt und gerügt wurde, ist ihr Biologismus. Aber gerade er ist hier auch die Dimension der Nähe zum Wahren: die ewige, Wiederkehr des Gleichen - ein Grundbegriff bei Nietzsche - ist die ewige Wiederkehr der Ontotextualität des Bewusstseins in den Generationen, die Wiederkehr seines Onto-Kodes, der es auf die Hetero-onto-thematizitäten hin orientiert. Die oberste oder wichtigste von ihnen ist bei Nietzsche mit "Übermensch" benannt. Daraufhin hat sich in dieser Theorie das Bewusstsein zu entwickeln, der Übermensch ist der Sinn und das Ziel seines eigentlichen Ontoprogramms oder Ontokodes. Nur - und das ist die negative Seite dieses Biologismus, der Punkt, wo er uns nicht als transzendental "gereinigter" entgegentritt, sondern in den ontothematischen Kategoricitäten der Naturwelt verfangen bleibt - sieht Nietzsche den einzig möglichen Weg zur Verwirklichung dieses Ziels in der Kategorisierung des Kodes oder Ontoprogramms des Bewusstseins. Er begreift diese Verwirklichung als Prozess auf Kosten anderer, in seinem Begriff genetisch (rassisch, kulturell usw.) "niedrigerer" Hetero-onto-thematizitäten; die "aufzüchtende" Realisierung des einen Ontothemas könnte nur unter der brutalsten Abstreichung anderer solcher Themata erfolgen. In diesem Zusammenhang wird heute von präfaschistischen Elementen im Philosophieren Nietzsches gesprochen. Frappante Ähnlichkeiten in der Formulierung bestimmter Gedanken bestehen tatsächlich. Aber im ontotextologischen Sinne ist Nietzsche deswegen doch noch nicht der Vorläufer Hitlers. Wenn in der Ontotextologie - und gerade das meint ja dieser Begriff - der Text und alles von ihm beformte Leben (hierher gehört selbstverständlich auch das Schicksal des Autors solchen Ontotextes oder Ontoprogramms) als unlösbarer Zusammenhang vorgestellt und verstanden werden müssen, so ist der philosophische Versuch Nietzsches bei aller Größe seines Ansatzes - die für uns hauptsächlich in der Ontotextualität seines Denkens besteht – als Ausdruck des tragischsten Misslingens zu werten. Er zeigte ja deutlich genug, dass es so nicht geht, dass das Bewusstsein jede Art seiner maximalen Übersteigerung in die Kategoricitäten nicht mit- macht, dass es von zu vielen und zu schweren Fehlern (von zu großen kategorisierenden Entgleisungen) in seinem Kode ruiniert werden bzw. zugrunde gehen muss. Der Fall Nietzsche hätte - gerade durch die Tragik seines Ausgangs - den Späteren zur Warnung dienen müssen. Dass das ausblieb, liegt an dem grundsätzlichen Unverständnis für den ontotextuellen Gesamtsinn dieses Falles, für die ontotextologische Widersprüchlichkeit, welche ihm zugrunde liegt und die eigentliche Ursache seines Scheiterns war.

 

b) Ontotextualität auf der phänomenologischen Etappe des Philosophierens
In der Entwicklung der Philosophie ist die nächste große und letzte Etappe, die auf den Begriff der Ontotextualität des Bewusstseins zuführt, die Phänomenologie. Als charakteristisch empfindet man auch hier, dass alle unverkennbar ontotextologischen Züge dieser transzendentalen Denkweise von der Spezifik der verschiedenen phänomenologischen Konzeptionen gleichsam "überschattet" werden, dass sie bloß Züge an einer inhaltlich ganz anders geformten Begrifflichkeit vorstellen und deshalb auch in einer für sie völlig inadäquaten Terminologie zum Ausdruck kommen. So ist beispielsweise "die Ordnung der Personalpronomina in der Epoche" ein von Husserl entwickelter Begriff, der schon auf das hindeutet, was sich als Onto-Kodeoder Ontoprogramm - also als ontotextuelle Grundlage - des intersubjektiven Kosmos bezeichnen ließe. Die Personalpronomen erscheinen, wenn aus der Wirklichkeit der Sprachwelt "ausgeklammert" - zusammengenommen ja tatsächlich schon als so etwas wie ein "offener", die ganze Menschheit umspannender, Text und – da ja alle diese Pronomen ineinander überführbar sind, also einander voraussetzen - auch als elementare, bewusstseinsimmanente Vorbedingung für alle höheren (inhaltlich entwickelteren), toleranten Denk- und Verhaltensweisen.
In dieser Sicht lässt sich also auch von einem phänomenologisch bestimmten, eben pronominalen, Kode des Bewusstseins sprechen, von seinem Ontoprogramm, dessen hauptsächliche Funktion darin besteht, das ontothematisch jeweils eigene Ich beständig als ein mit Hetero-onto-thematizitäten anderer Ichs verbundenes vorzustellen, es ihm selbst aus allen funktionalen Gleichwertigkeiten dieser Verbindung heraus begreiflich zu machen u. ä. Das ist - wenn auch immer noch ganz anderen philosophischen Begriffen und Zielsetzungen unterstellt - ein zweifellos schon ganz ontotextologisch ausgerichtetes Philosophieren. Noch ausgeformter und auf wesensgemäßere Begriffe gebracht erscheint uns die Ontotextualität des Bewusstseins in der Existenzialontologie Martin Heideggers. Was in "Sein und Zeit" erarbeitet wird, ist der strukturelle Begriff des Seins (des Bewusstseins), der - wenn in der Hauptsache auch wieder ganz von der spezifischen, nämlich temporalisierenden, Methode der existenzial-ontologischen Analysen geformt - genau genommen doch nichts anderes vorstellt, als ein aus den transzendentalen Zielsetzungen dieser Analysen geschöpftes Konzept von der existenzialen Seinsverfassung als ontotextologischer Status. Formeln wie etwa "das gewesend-gegenwärtigende-Gewärtigen" machen bei Heidegger die Zeit als ein onto-kontextologisches Ganzes verständlich, als Dimension also, in der die Existenz sich immer nur entfalten, d. h. als spezifisches in-der-Welt-Sein zum Phänomen werden kann. Hier zu bemerken ist ferner, dass die bei Heidegger auch ganz auf dieser im Grunde ontotextologischen Temporalität gegründete Unterscheidung zwischen existenzialer Eigentlichkeit und existenzialer Uneigentlichkeit auf den Begriff der Ontothematizität des Menschen reduzierbar ist, dass sie diesen Begriff im existenzial-ontologischen Sinne polarisiert, wobei die Eigentlichkeit dann den - hier allerdings in seiner ontotextologischen Bedeutung nirgends hervor gehobenen - Grundsinn einer von der Existenz erstrebten Hetero-onto-thematizität gewinnt. Die Existenzialontologie Heideggers arbeitet also schon mit Begriffen von durchaus ontotextologischer Valenz, und was sie gibt, ist auch ohne weiteres ontotextologisch, nämlich als temporaler Kode des existenzialen Seins, ausdeutbar. Und doch ist diese Ontologie noch nicht Ontotextologie, noch keine Theorie über die Ontotextualität des Seins. Der Grund dafür mag vielleicht auch noch darin liegen, dass die Existenzialontologie mehr am Sein orientiert ist als am Leben, dass sie alles Lebensphilosophische, das von ihrem Ansatz miterfasst und ihrer Analytik gleichsam "mitvorgegeben" war, gleich in bestimmte Transzendentalien (in transzendentale Temporalitäten) umsetzte, ohne näher auf Ontotextualität einzugehen.
 

8. Allgemeines zur Ontotextualität in der modernen Kunst

Das Versagen der Weltanschauung und die ökologische Gefährdung sind in unseren Tagen Ausdruck der onto-kon-textologischen Krise des Bewusstseins, also Ausdruck dafür, dass es als ein schon sehr weit von seinem ursprünglichen Ontoprogramm abgekommenes, als eine in Kategoricitäten verirrte Rationalität, prinzipielle Schwierigkeiten hat, die textuelle Selbstkorrektur durchzuführen, sich und seine Lebenswelt in einer historisch gewissermaßen "zweiten" Renaissance wiederzugewinnen, kurz: die Ontotextualität, die es sein müsste, neu und textologisch wesensgemäßer zu konstituieren. Es ist daher sicherlich auch kein Zufall, dass heute nicht nur in der Philosophie, sondern auch im Bereich der Kunst und da ganz besonders in der Literatur der Mensch immer deutlicher als ontotextologisches Problem zum Gegenstand der Betrachtung (der kunstvollen Beschreibung) gemacht wird. Jede Form der Collage z. B. ist schon so etwas wie ein Operieren mit verschiedenen Textualitäten, der Versuch zu einer neuen, eben onto-kon-textuellen Gestaltung, denn Kunst soll ja vor allem die Lebenswelt, ihr Sein, ihre Wahrheit usw. widerspiegeln. Was so in der modernen und modernsten Literatur zu immer schärferen Konturen gelangt, ist gerade das ontotextologische Thema: das Buch im Buch oder der Text im Text, die Romanwelt z. B. als die auf einen bestimmten, sie tragenden bzw. gründenden Text bezogene Lebenswelt der Buch - oder Romanpersonen. Diesen, wie uns scheint geistesgeschichtlich äußerst wichtigen, Umstand hier möglichst klar herauszubringen, war unsere hauptsächliche Aufgabe in der Zeit des uns von der Heinrich-Böll-Stiftung zugewiesenen Stipendiums.

9. Ontotextualität als ein Problem im Arbeitsprogramm der H.-Böll-Stiftung

Die hauptsächlichen Themen, mit denen die Heinrich-Böll-Stiftung befasst ist, z. B. Aufgaben wie Ökologie der Kultur, Weiterentwicklung von Demokratie und Menschenrechten angesichts unserer technologischen Zukunft, Aufarbeitung der Vergangenheit (Nazismus, Stalinismus), sind alle im Grunde Aspekte der ontotextologischen Problematik des heutigen Zeitbewusstseins. Betreffen sie doch die Schwierigkeiten und Widersprüche unserer Lebenswelt, welche zu beseitigen oder wenigstens zu lindern ein Hauptanliegen der Stiftung ist. Nichts erscheint deshalb zielgemäßer als ein Versuch, die oben dargelegten ontotextologischen Gesichtspunkte über unsere Zeitprobleme mit dem Arbeitsprogramm der Stiftung in Verbindung zu bringen, als zu versuchen, diese Gesichtspunkte für die Klärung bestimmter, im Großen und Ganzen noch unbeantwortet gebliebener, Fragen des Programms fruchtbar zu machen.
Eine davon ist die Analyse der Arbeiten des Schriftstellers und Künstlers Heinrich Böll, die Frage der genaueren Bestimmung ihrer großen Rolle und hohen Wirksamkeit im Entwicklungsprozess der Weltlitertur. "In dieser Hinsicht" - lesen wir in Info 2/90 - (sei) "die Erwartungshaltung an den Fachbeirat ,Heinrich Böll - Leben und Werk' sicher hoch, doch relativ unklar. Der Fachbeirat selbst (sehe) im Bereich Kunst/Kultur für die Stiftung eine große Notwendigkeit ...doch (sei) die Verständigung über den Kulturbegriff bislang recht verschwommen.“ Diese Worte ermutigen uns zu einer ontotextologischen Interpretation eben dieses Begriffes, also dazu hier den Versuch einer Präzisierung der ontotextuellen Strukturen im Kulturbereich zu wagen oder noch anders und genauer gesagt: wir fühlen uns dadurch ermutigt, gewisse Werke der Weltliteratur und vor allem bestimmte wichtige Arbeiten Heinrich Bölls als Ausdruck der für diesen Bereich ebenso charakteristischen und grundlegenden Ontotextualität vorzustellen.

10. Über das metatextologische Wesen der Ontotextualität des Bewusstseins

Das erste, was in dieser Hinsicht anliegt, ist die Verwahrung gegen den immer möglichen Vorwurf, hier Philosophie und Kunst ontotextologisch durcheinander zu bringen oder schlimmer noch: beides undifferenziert zusammenzuwerfen. In den Bereichen der Philosophie und der Kunst (hier ist bei uns vor allem Literatur gemeint) wird Ontotextualität auf je verschiedene Weise erfassbar. Philosophisch kann mit Ontotextualität nur der Meta-Text oder eben Onto-Kode gemeint sein, der den Denkakten, wie auch überhaupt der gesamten Lebenswelt des Bewusstseins, zugrunde liegt. Dieser Kode ist natürlich nicht das, was man einen geschriebenen Text nennt, und der Leseakt, der für sein Verständnis notwendig ist, ist auch nicht mit dem gewöhnlichen Lesen von Schriftstücken vergleichbar. Der Onto-Kode oder das Ontoprogramm des Bewusstseins existiert etwa so wie der genetische Kode von Organismen, also als eine bestimmte (vielartige), die lebens- oder Seinsweisen seines Trägers (des Bewusstseins) präformierende, Thematizität, als ontologische Grundlage, auf der das Bewusstsein eben nur das sein kann, was es ist, nämlich Orientierung auf eine Reihe unterschiedlicher Ontothemen, worunter die Hetero-onto-thematizität den hauptsächlichen (vom Erkenntnisinteresse des individuellen Bewusstseins gesetzten) Orientierungspunkt vorstellt.
Das verstehende bzw. lesende Gehorchen, mit dem das konkrete Bewusstsein auf dieses Ontoprogramm reagiert, ist durch seine Seins-, Verhaltens- und überhaupt Lebensweisen ausgedrückt, z. B. dadurch, dass es als ein unentwegt auf Hetero-onto-thematisches Bezogenes dahinlebt. Gelesen bzw. verstanden wird der Metatext also mit dem Leben, d. h. mit der spezifischen, eben poly-onto-thematischen, Lebensart des Bewusstseins. In ihrem ontotextologischen Wesen sind dieser Kode und der ihm entsprechende, z. B. vollzogene, Leseakt so etwas wie ein Metatext und eine Metalektüre. Alle schriftlichen Texte, und unter diesen natürlich in erster Linie die ontologisch bedeutsamen, also geschichtsmächtigen, Schriften der Religionen, der Philosophien und bestimmter Ideologien, sind nur auf der meta-onto-textologischen Grundlage des Bewusstseins denkbar, sie alle sind in seinem poly thematischen Ontoprogramm verwurzelt, von dem sie sich aber als in Raum und Zeit veräußerlichte (als objektivierte) Texte auch zugleich tief unterscheiden: solche Schriftstücke haben -da sie ja wesentlich nur mit entsprechenden (z. B. interpretierenden) Denkakten gelesen werden können, den unmittelbaren Bezug zum Leben verloren. (Darum bedarf es auch immer besonders einflussreicher (bekannter, beliebter, autoritärer usw.) Persönlichkeiten, um diese Schriften in der Geschichte mächtig werden, sie von der ganzen Gesellschaft gelesen (gehört) und befolgt werden zu lassen). Außerdem sind solche Texte auch noch in hohem Grade der Gefahr der Entgleisung in ontotextologische Irrtümer (in die Kategoricitäten und Anti-onto-thematizitäten) ausgesetzt, was sie von ihrer ontotextuellen Grundlage (von ihrer Metatextualität) dann nur noch mehr entfernen muss.

11. Hermeneutik und Textologie

Nun gibt es heute auch eine Art des Philosophierens, die im wesentlichen auf Texte dieser schriftlich (oder mündlich) formulierten Art ausgerichtet ist, die zwar den ontologisch bedeutsamen, aber dabei auch zum Phänomen gewordenen und bewusst gelesenen Kode zum Gegenstand hat. Die ganze Hermeneutik und alle textologischen Untersuchungen des Franzosen Derrida gehören hierher, d. h. sie gehören zur Philosophie über ontologisch wirksame (oder philosophisch bedeutungsvolle) Literatur. Für diese Methode, literarisch zu philosophieren, ist es denn auch charkteristisch, dass das meta-textologische Moment in der Ontotextualität zurücktritt, dass nur die faktischen Texte (die faktuelle Textualität) anfangen wichtig zu werden, dass sie beginnen eigentlich nur noch mit ihren Interpretationsmöglichkeiten, mit ihrer Bedeutung für die Lebensgegenwart des sie interpretierenden Bewusstseinszu interessieren. Der am Ende solcher textologischen Methodik stehende Relativismus, die Absage von aller metatextlichen oder ontotextuellen Prädeterminierung des Bewusstseins ist auch zugleich Missachtung des ontotextologischen Fundiertseins allen Lebens, also auch und vor allem der Lebenswelt des Bewusstseins, es ist die Missachtung dessen, dass alles Leben in einem für es selbst meta-onto-textologischen Sinne Lesen ist.

12. Zur ontotextologischen Kraft des Wortes

Wenn wir hier Ontotextualität in der Literatur suchen und sichtbar machen wollen, so haben wir also nicht im Sinne, literarisch (z. B. über ontologisch bedeutsame Texte der Literatur) zu philosophieren. Was wir hier aber auch nicht vorhaben, ist Texte der Weltliteratur auf die Metalogik der Ontotextualität des Bewusstseins zurück zu führen. Damit würden wir den größten Fehler begehen, wir würden diesen Texten das nehmen, wodurch sie überhaupt nur erst literarische Texte sein können, nämlich ihr spezifisches Element des Kunstschönen. Wie das Metatextologische in der Ontotextualität des Bewusstseins von Literaturwerken gespiegelt wird, wie die spezifisch kunstvolle Art dieser Spiegelung zustande kommt, ist hier unsere einzige Frage. Ihre positive Lösung wird uns dann auch unter Beweis stellen, dass die Entwicklung der Literatur und der Philosophie bis heute ontotextologisch parallel verlaufen ist: in diesen beiden Bewegungen ist die ontotextuelle Grundverfassung des Bewusstseins immer deutlicher zum Vorschein getreten, und es ist sicherlich auch kein Zufall, dass die Literatur ihr gerade heute, im Augenblick der universalen ontotextologischen Krise unserer Welt, auf ihre Weise den schärfsten Ausdruck gibt. Und es ist denn wohl auch ebenso verständlich, wenn gerade Dichter sich heute der geschichtlichen Macht des Wortes bewusst werden und in ihren Ansprachen und Essays immer wieder auf diesen Umstand verweisen, wenn sie mit solchen Beschreibungen im Prinzip nichts anderes als ontotextologische Aussagen abgeben, also Urteile, welche die Abhängigkeit der menschlichen Lebenswelt von Texten (Kodes, z. B. ideologischen Ontoprogrammen usw.) studieren.
So schreibt z. B. der Dramaturg und Staatspräsident der Tschechoslowakei, Vaclav Havel, folgende Sätze über das Wort: "... Einmal kann es herrliche Perspektiven eröffnen und ein anderes Mal nur Gleise verlegen, die in ganze Archipele von Konzentrationslagern führen. Dasselbe Wort kann einmal ein Baustein des Friedens sein und ein anderes Mal kann jedes einzelne seiner Laute vom Echo der Maschinengewehre dröhnen". Was hier ausgesprochen wird, ist die ontotextologische Wahrheit des Geschichtsprozesses, d. h. die Wahrheit, dass es Texte gibt, die die Lebenswelt des Bewusstseins beformen, die sich wie schicksalhafte Machtfaktoren auf diese Welt auswirken, sie entweder in den Abgrund reissen oder - wenn der Text weniger kategorisch ausfiel (nach den hier entwickelten ontotextologischen Begriffen heisst das: wenn das historisch gültige Schriftstück mindestens in seinen wichtigsten Teilen auf das metatextliche Ontoprogramm des Bewusstseins bezogen blieb) - ihr vorschreiben können, die Hetero-onto-thema-tizitäten sanfter anzufassen, sich mit ihnen zu vertragen, zu vermeiden, dass sich da etwas ins Anti-onto-thematische verkehrt usw.

13. Über Ontotextualität in Werken der deutschen Literatur

Die Literaturgeschichte ist die Geschichte der ontotextologischen Wahrheit des Bewusstseins, welche sie - allerdings auf eigene, eben künstlerische Weise - spiegelt. Das grundsätzliche Prinzip dieser Spiegelung ist, dass zwei Texte oder Textwelten als miteinander verklammerte vorgestellt werden: eine ontothematisch hauptsächliche, also im Wesentlichen vordergründige, Textwelt, die die eigentliche Dimension des ganzen Erzählstoffes bildet; und eine andere Textwelt, der hier nur eine meta-onto-thematische Bedeutung zukommt, weil sie eben mit der eigentlich erzählten Welt der Dichtung direkt nichts zu tun hat und da nur vermöge irgendwelcher metalogischer (übernatürlicher) Kräfte, z. B. Zauberkräfte, mit hinein wirkt. Die Buchpersonen (es können je nach dem literarischen Genre, dem sie zugehören, Vers- oder Romanweltmenschen sein) der ersten Textweltrealität werden so dem Einfluss einer zweiten, im Vergleich mit ihrer Wirklichkeit völlig meta-logischen, Textwelt unterstellt. Sie enthüllen sich so als von diesem Einfluss völlig benommene, metathematisch geleitete, Textweltmenschen, welche den Gesetzlichkeiten der zweiten Textweltwirklichkeit oder - wie wir ja hier auch sagen können - den Gesetzlichkeiten des über sie eingesetzten Metatextes restlos unterworfen sind. Dieser die Sujetentwicklung dann immer eigentlich vorantreibende, sie auf ihre thematischen Ziele hin programmierende, Text kann in der Literatur als ein amoralischer- also als "böser" Kode - vorgestellt sein. In solchem Fall ist die Parallele zu dem Malheur mit der für die gesamte Lebenswelt der Gesellschaft im europäischen Osten so fatal gewordenen ideologischen Literatur schon evident genug. Diese Literatur ist dann eben auch als eine für die Lebenswelt un- bzw. metalogische oder metathematische zu verstehen, nämlich in einem Sinne, der das meta- als einen negativen, d. h. anti-onto-thematischen, Bestimmungsfaktor setzt.
Das literarische Werk, das für so eine Parallele in Frage kommen kann, ist z. B. Goethes Faust, und da die Helena-Episode im zweiten Teil. Bekanntlich wird hier die erste und hauptsächliche, nämlich mittelalterliche, Textweltrealität des Werkes mit einer zweiten, und zwar der des homerischen Epos, verknüpft. Eine Ritterburg, wo Faust selbst als Burgherr residiert, ist hier in das Königreich des Menelaos hineingestellt, der eben aus dem Feldzug gegen Troja heimgekehrt ist und seine Frau Helena zurückgebracht hat. Der altgriechische Text ist hier sozusagen der Kode, der die Denk- und Handlungsweisen von Faust und Helena bestimmt, der sie in liebe zusammenführt und auch ein Kind - den Euphorion - haben lässt.
Doch das alles ist nur ein Spuk, nur ein aus dem Gehirn des Teufels (des Mephistopheles) entstandener, böser Zauber, der dann ganz zuletzt mit dem Verschwinden der gesamten Metathematik, in erster Linie mit dem Tode des Euphorion und der körperlichen Auflösung der Helena bezahlt werden muss. Die Helena-Episode ist schon der klare Ausdruck für eine literarische Schreib- bzw. Schöpfungsweise, die heute die modernste und ästhetisch gültigste ist, weil sie die ontotextologische Verfassung des Menschen thematisiert, indem sie ihre textliche Lebenswelt nach den Gesetzlichkeiten eines anderen (metathematischen) Textes oder Kodes einrichtet und so versteht, das Kalon (das Kunstschöne) mit dem On (mit der ontotextuellen Wahrheit des Bewusstseins) eins werden zu lassen.
Als zweites klassisches Beispiel für die ontotextologische Entwicklungstendenz in der Weltliteratur möchten wir hier Hermann Hesses „Morgenlandfahrt“ anführen. In diesem Buch ist das metathematische Moment, die hintergründige, zweite Textwelt oder der gründende Onto-Kode (der Text im Text) als etwas Positives angenommen, nämlich als das, was auf die eigentliche, in den anderen, vordergründigen Textwelten verloren gegangene oder verschüttete Wahrheit des Lebens zuführt. Diese Wahrheit besteht hier vor allem in einer seltsamen, für die Morgenlandfahrer zauberhaft aufscheinenden, zeiträumlichen Onto-kontextualität von allem, was in den ersten Textweltrealitäten gewöhnlich auseinander liegt, was da also nur als hetero-onto-thematisch Ausgegrenztes, ja sogar auch als Anti-onto- thematizität, gewertet werden kann. So dringen dieMorgenlandfahrer bekanntlich bis in die Zeiträume und Raumzeiten des goldenen Zeitalters vor oder - um hier noch eine andere! die prinzipielle Sujetweltoffenheit dieser Ontokontextualität besonders gut verdeutlichende Stelle zu nennen - die Buchpersonen aus den verschiedensten Roman(Sujet)weltrealitäten kommen da mit den Morgenlandfahrern, welche ja Realpersonen sind, zum Gedankenaustausch zusammen.
In der Ontokontextualität als der eigentlichen Dimension der Morgenlandfahrt sind die Grenzen zwischen allen verschiedenen Thematizitäten aufgehoben, alles Hetero-ontische, was sonst voneinander getrennt oder sogar gegeneinander existiert, vermag sich hier gegenseitig kennen zu lernen und sich als Thematizität zu bereichern. Gerade darin aber besteht - wie wir gesehen haben - der Sinn des Onto-Kodes (oder Onto-Programms) des Bewusstseins, so dass dieses kleine Büchlein von Hesse -eben weil es seine hohe ästhetische Wirkungskraft von diesem Kode ableitet - als Kunstwerk von großer ontotextologischer Bedeutung zu werten ist. Als nächstes Literaturbeispiel reihen wir hier den „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil an. Dieses Werk hat mit Hesses „Morgenlandfahrt“ das gemeinsam, dass es sich auch auf den Kode des Bewusstseins gründet, der der Kode der ontothematischen Freiheit ist. Ohne Eigenschaften ist die Romanperson Ulrich hier deshalb, weil sie jenseits jeglicher Form von ontothematischer Bestimmtheit gedacht ist, weil sie als beständige (ontothematisch nicht fixierbare, also "onto-unthematische") Offenheit zu den Hetero-onto-thematizitäten hin lebt bzw. leben möchte und gerade durch diese ontothematische Unbestimmbarkeit oder durch ihr Angelegtsein auf die "Allerschaftlichkeit" die ontisch zergliederte, d. h. in die verschiedensten, ja sogar auch gegenteiligsten, Ontothemata fest gerannte Gesellschaft, in der sie zu leben hat, befremdet und irritiert. Übrigens ist die Art, wie alle übrigen Personen das Romanwerkes auf Ulrich reagieren, auch nicht nur eine negative: von manchen wird er um die Leichtheit, mit der er sich von allen ontothematischen Schranken zu befreien weiss, auch heimlich beneidet, verehrt und - wenn sie Frauen sind - auch geliebt. Den unwiderstehlichen Reiz, der von Ulrich ausgeht, hat diese Romanperson dem Umstand zu verdanken, dass das Ontoprogramm des menschlichen Daseins in ihrem Bewusstsein mit besonderer Intensität hervorgetreten ist, dass es von den Menschen ihrer nächsten Umwelt als psychisches Phänomen unmittelbar registrierbar und bewertbar wurde. Aber auch diese Menschen (wie z. B. Walter, Arnheim, Diotima, Clarisse usw.) werden hier so beschrieben, dass ihr Eingebundensein in irgendeine Ontothematik diese doch niemals als den letzten unüberschreitbaren Horizont für sie erkennen lässt. In jeder von diesen Romanpersonen ist die grundsätzliche Anlage (Freiheit) des Bewusstseins zur ontothematischen Unbestimmtheit trotz aller ihrer Verhüllungen und Verdeckungen durch onto-mono-thematische Bestimmtheiten immer noch erkennbar. Die Romanperson am anderen Ende dieses bunten, „Bewusstseinsspektrums“ ist der Psychopath Moosbrugger, bei dem die ontothematische Offenheits(Freiheits)struktur des Bewusstseins ins Kategorische ausgeartet ist, der die Hetero-onto-thematische Existenz der Frau wie etwas Anti-onto-thematisches brutalisiert.
Musils Buch „Der Mann ohne Eigenschaften“ ist ein im Prinzip ontotextologisch konzipierter Roman, d. h. es ist ein Werk, das dem Ontoprogramm seiner handelnden Personen nachspürt, das es in seiner ganzen empirischen (also nach der individuellen Zuordnung zu den Thematizitäten differenzierten) Verschiedenheit beschreibt. Ähnliches liegt, wie wir glauben, in Rilkes Weltinnenraumgedicht vor. So ist seine erste Zeile „Es weht zur Fühlung fast aus allen Dingen ...“ ja schon deutlich Ausdruck für die Bezogenheit (Offenheit) des Bewusstseins auf alles Hetero-onto-thematische; die Überlegungen des Dichters in den folgenden Zeilen „Was haben wir seit Anbeginn erfahren .../... Als dass an uns Gleichgültiges erwarmt?“ deutet auf die Fähigkeit des Bewusstseins hin, das Onto-unthe-matische wie etwas Heimisches zu empfinden, sich mit den Hetero-onto-thematizitäten als ontokontextologisch vereint zu erkennen. Der alle Wesen durchreichende Weltinnenraum, von dem in den letzten zwei Strophen des Gedichts die Rede ist, lässt sich als innerer Lebensraum des Bewusstseins verstehen, d. h. als Raum, wo jeder Hetero-onto-thematizität (z. B. einem Vogelflug, allen verschiedenen Phasen des Wachsens, von Entwicklungen, Betätigungen, allen Gemütszuständen usw.) ihre konkrete Zeitstelle (ihr genauer raumzeitlicher Ort) zukommt (gesetzt natürlich, dass sie unser Erfahrungsgegenstand ist). Das Gedächtnis als onto-kon- textologischer Gewahrsam des Seins, als spezifischer Schutzort der Schöpfung, ist das Thema dieser, wie man sieht, durchaus ontotextuell (also von der Vorstellung des Bewusstseins als spezifischer, poly-thematischer Ontotext her) gedachten Rilkestrophen. Eine besondere Stellung in der Reihe der ontotextologisch bedeutsamen Werke der Weltliteratur nehmen die Romane und Erzählungen Heinrich Bölls ein. Der zweite (oder ontologisch primäre) Text wird hier, ähnlich wie bei Goethe, direkt bezeichnet, d. h. die Onto-kontextualität des Bewusstseins erhält hier wieder ihren unmittelbaren Ausdruck, aber in einer viel radikaleren, nämlich das ganze Einzelwerk umgreifenden, Form. Der ontotextologische Bezugspol ist bei Böll in jedem Fall literatursymbolisch bezeichnet, d. h. der Begriff verbleibt im Bereich des Genres, was er ontotextologisch impliziert, ist selbst wieder Kunst oder es ist der Heiligen Schrift entnommen. Was uns hier als erstes interessieren muss, ist die Erzählung "Der Zug war pünktlich". Dieser Stoff handelt von einem deutschen Soldaten im zweiten Weltkrieg, der, von bösen Vorahnungen betroffen, auch tatsächlich in der Nähe des von ihm so angstvoll antizipierten polnischen Ortes Opfer eines Partisanenüberfalls wird. Was an dieser Geschichte besonders auffällt, ist, dass ihr Held (der Soldat Andreas) sich bei seinen Todesahnungen wie zur Beruhigung einmal das Gedicht "Archibald Douglas" von Theodor Fontane hersagt und dass ihm diese Ballade auch noch am Schluss der Erzählung von einer Frau vorgesummt wird. Die Ballade erzählt von dem Grafen Douglas, der nach einem langen Exil seinen Feind, den König Jacob, um die Erlaubnis anfleht, zurückkehren, "die Luft im Vaterland wieder atmen" zu dürfen. Diese Bitte wird dem Grafen gewährt, ja der König ist sogar bereit, die alte Feindschaft, welche zwischen ihnen war, zu vergessen und den Douglas wieder in seine Dienste aufzunehmen. Dieser Text im Text über das tragische Schicksal des Soldaten Andreas scheint auf den ersten Blick keinen determinierenden Bezug zu dessen Schicksal zu haben, ja er scheint - weil doch in ihm von einer glücklichen Heimkehr die Rede ist und der Soldat Andreas in der Fremde sterben muss – eher das Gegenteil auszudrücken.
Und doch verbindet Gedicht und Erzählung hier ein ganz bestimmter ontotextologischer Sinn: gerade weil der Text im Text ein konträrer ist und die Personen in der Erzählung sich mit seinem Sinn nicht identifizieren können, wird der ganze Bericht über den Soldaten Andreas zum Ausdruck der negierten, bis auf den unbedeutendsten Rest reduzierten bzw. kategorisierte Ontotextualität des Bewusstseins. Die Personen der Erzählung - ihre Hauptpersonen jedenfalls - sind gekennzeichnet von dem Mangel eines sie schützenden, vor dem Ärgsten bewahrenden, Ontoprogramms. Das Gedicht „Archibald Douglas“ steht - eben weil es seinem Sinn nach am wenigsten hierher passt - als symbolischer Ausdruck für diesen Mangel. Die ganze Tragik der Erzählung beruht gerade darauf: sie ist die Tragik des Bewusstseins, das zu seiner ontotextuellen Wahrheit nicht mehr durch findet und unter dieser Verirrung zu leiden hat.
Der Roman „Wo warst du, Adam?“ markiert die Ontotextualität, die seine Entfaltung bewegt, schon im Titel. Das ist die Frage, welche im ersten Buch Mose Gott Adam stellt, als dieser sich schon versündigt hat und nicht wagt, vor das Angesicht seines Schöpfers zu treten. Allerdings ist die Frage in dem Buchtitel etwas abgeändert. Sie steht im Präteritum. In der Bibel fragt Gott im Präsens „Wo bist du?“ Denn Adam „ ist“ ja nun in der Sünde. Dieser Zustand wird fortan seine ganze Existenzlage in der empirischen Welt bestimmen, d. h. er wird fortwährend daran zu tragen und zu leiden haben. Es ist eine ewige Frage, welche so über Adam hängt und die sich ihm nach jeder neuen Versündigung von neuem stellt. Die Frage im Buchtitel kann somit als Konkretisierung der Urfrage im Schöpfungsbericht verstanden werden, als Bezugnahme des ewigen Fragers auf ein bestimmtes und grundsätzliches Vergehen des Befragten, nämlich darauf, dass er im Kriege war, am organisierten Mord von seinesgleichen teilgenommen hat und nun – vielleicht entsetzt über das, was mit ihm geschehen ist, also schuldbewusst, vielleicht aber auch, weil er von Anfang an niemals richtig mit dabei, also eigentlich ein Gegner des ganzen Irrsinns war – dort weggegangen ist und einfach nach Hause will. Das gerade ist der Fall des Soldaten Feinhals, der in dem Roman noch kurz vor Kriegsende auf sein Elternhaus zugeht, auf dem eine weiße Fahne flattert. Die Gewissensfrage „Wo bist (warst) du, Adam?“ ist ein Text, der die ganze Menschheitsgeschichte durchzieht, der sie - diesen anderen, soviel schicksalhafte Irrtümer und Verirrungen enthaltenden, Text - als fortwährende, verzweifelte (reuevolle, zerknirschte usw.) Antwort auf sich formt und fordert. Ontotextologisch kommt diese Frage aber auch als ewig mahnender Ruf, als niemals verklingende Aufforderung an den Menschen, seine Entgleisungen in die Anti-onto-thematizitäten abzustellen, alles Hetero-onto-thematischeder Schöpfung zu achten, kurz: in der ontotextuellen Wahrheit seines Bewusstseins zu leben (oder dieses Leben mindestens anzustreben).
Der Roman „Billard um halb zehn“ entrollt ein Stück Weltgeschichte, ausgehend von zwei ontotextuellen Begriffen: dem Begriff des Sakraments des Lammes und des Sakraments des Büffels. In der christlichen Kirche ist das Sakrament des Altars ein Hauptstück des Katechismus, also vor allem eine textlich-schriftliche Anweisung für eine bestimmte heilig-symbolische Handlung (das Essen und Trinken vom Leibe und Blute Christi). Das Sakrament ist aber auch und vor allem onto-textologisch, sofern ja seine Worte - wenn sie nur gläubig aufgenommen werden - das Heil (Leben in Vergebung der Sünden und in Seligkeit) versprechen. Der Satz Jesu „Für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünden“ wird direkt als Hauptstück des Sakraments bezeichnet. Für das gläubige Bewusstsein haben diese Worte also die Bedeutung eines machtvollen Ontoprogramms, das auf die Bereinigung aller seiner anti-onto(auch mono)thematischen Verirrungen, aller seiner kategorisierenden (tyrannisierenden) Denk- und Handlungsweisen anderen gegenüber angelegt ist. Dieser Satz ist somit der Kode der Selbstkorrektur des Bewusstseins, eine bestimmte ontotextologische Form ;) seiner Rückführung in die wahre Ontotextualität.
In „Billard um halb zehn“ wird ein Stück deutscher Geschichte - es ist hier zugleich die mit dem Blick auf drei Generationen erzählte Geschichte der Architektenfamilie Fähmel - als eine Periode vorgestellt, in der das Sakrament des Altars oder - wie Böll es anders nennt „das Sakrament des Lammes“ für jedes individuelle Bewusstsein mit einem stärker ausgeprägten Hang zur Selbstkorrektur gerade in seiner grundlegenden ontotextologischen Funktion und Notwendigkeit Bedeutung gewinnt. Diese Leute unterscheiden sich hier von jenen, welche vom "Sakrament des Büffels" essen und dadurch unter seinen ontotextologischen (kodifizierenden) Einfluss gerieten. Im Roman ist dieses „Sakrament“ der ontotextologische Gegenpol zum Sakrament des Lammes, d. h. es ist als Denk- und Handlungskodeeingeführt, den das individuelle Bewusstsein, das gegen solche Versuchungen nicht genügend gewappnet ist, sich immer leicht geben kann und in der Geschichte leider auch nur zu oft gegeben hat. Auf der ontotextologischen Grundlage dieses „Sakraments“ ist das individuelle Bewusstsein den Kategoricitäten verfallen, d. h. es verkeh rt das Hetero in das Anti und will sich nur noch mono(onto)thematisch. lm Roman ist auf die verheerenden Folgen, welche solche verirrte Ontotextualität für die Lebenswelt des Bewusstseins hatte, das ihr anhing, genauestens hingewiesen, ja gesagt ist auch, wie dieser im Endeffekt ja eigentlich nur „thanatologische“ Kode sich auch bis in die Nachkriegszeit hinein behauptet und seine Träger findet. Ontotextologisch verstanden, ist das Sakrament des Büffels natürlich nur die entartete Form des Sakraments des Lammes, die Form seiner Befleckung und Nivellierung durch Kategoricitäten und Anti-onto-thematizitäten. Der Roman "Billard um halb zehn" erweist sich uns so als ein ontotextologisch konzipiertes Werk, als ein Buch, in dem die Ontotextualität des Bewusstseins als das erste und wichtigste Problem unseres Zeitalters mit einer für das Genre einmaligen Wucht der Darstellung zum Ausdruck kommt.

14. Allgemeines über nichtdeutsche Autoren ontotextologischer Schreibweise

Da wir unsere Beispiele für die Ontotextualität in der Kunst nur aus der deutschen Literatur schöpfen wollten, kann hier ein kurzer, abschliessender Hinweis auf die wichtigsten ontotextologisch schreibenden Autoren in anderen Literaturen schon genügen. Diese sind für uns vor allem Italo Calvino und Umberto Eco. In den Werken dieser Autoren kommt das Buch selbst zum Wort, wird die bestimmende Gewalt, welche es über das Bewusstsein hat (seine metatextologische Wirkungskraft) auf verschiedene Weise in Betracht gezogen. Bei Calvino geschieht das spielerischer und vielleicht auch phantasievoller, mit Hineinnahme des Lesers in die ontotextologischen Bezüge; Eco entfaltet seine ontotextuellen Überlegungen in einem sachlicheren (sich an historische Tatsachen haltenden, sie kombinierenden und kunstvoll verfremdenden) Erzählstil.
Für schreibende Menschen, welche die Sowjetunion, diesen bis vor kurzem ja noch ontotextologischen Gewaltstaat, auf lange Strecken ihres Lebens erlebt haben, ist Ontotextualität eine immer zu erwartende, ja geradezu natürliche Komponente ihres Schreibens. Als Beispiel wäre hier das Buch des russischen Emigranten Abraham Terz "Gute Nacht" anzuführen, das aus zwei Texten zusammengefügt ist; der ontotextologisch bestimmende (mehr dem Religiösen zugewandte) ist hier mit besonderer (rötlicher) Druckschrift hervorgehoben und durchzieht abstandsweise den faktuell entfalteten Lebensbericht. Der Verfasser dieser Schrift gehört - so sieht er sich jedenfalls - zu diesem Schriftstellerischertyp, d. h. er versucht zu allem, was er schreibt, eine ontotextologische Grundlage zu finden, den in seiner Mono-onto-thematizität eingefangenen Textweltmenschen als Erlösten, also in ontothematischer Freiheit, vorzustellen.

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